Nachgefragt: wie erwirbt man heute Wissen?

von | Mai 8, 2020 | #mehrGESPRÄCHE, Textbeitrag

Durch den Zugang zu digitalen Plattformen und Online-Datenbanken sehen wir uns heute tagtäglich mit einer großen Flut an Informationen konfrontiert. Wir wollen wissen: Ist der digitale Zugang zu Wissen Herausforderung oder viel mehr Chance?

Nachgefragt: Alexander Pinz im Interview

Alexander Pinz war vor seiner aktuellen Tätigkeit als Projektkoordinator beim Paul-Ehrlich-Institut, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Public und Nonprofit Management von Prof. Dr. Bernd Helmig an der Universität Mannheim.

Herr Pinz, wie verändert sich derzeit die Art und Weise, Wissen zu erwerben?

Der Trend geht dahin, dass man heute sehr viel schneller sein muss, sich Wissen anzueignen. Wenn wir in der Forschung wissenschaftliche Artikel lesen, ist es selten, dass wir Studien von der ersten bis zur letzten Seite lesen. Das bedeutet, dass wir, wenn wir einen schnellen Einblick in ein Thema haben wollen, die Kurzzusammenfassung lesen sowie die Einleitung und den Schluss. Dann wissen wir ungefähr, was in dem Papier steht und können den Inhalt einschätzen. Wenn das Thema relevant ist für die eigene Arbeit, geht man einen Schritt weiter.

Der schnelle Zugang zu Wissen, das ist mittlerweile eine Kompetenz, die man besonders an einer Universität erwerben sollte, weil einfach sehr viel Wissen da ist. Früher war es anders, als man in Bibliotheken gegangen ist und sich ein Buch herausgeholt hat. Man muss sich nun viel mehr zurechtfinden, um nicht übermannt zu werden. Das ist definitiv ein Trend, der sich zeigt. Der Nachteil ist, wenn man eben alles kürzer und schneller macht und auch in den digitalen Medien vermehrt mit Überschriften gearbeitet wird, die Aufmerksamkeit erzeugen, dass man nicht mehr wirklich den Kontext im Detail analysieren kann. Es kann passieren, dass man dann Informationen ohne Zusammenhang nicht mehr richtig reflektiert. Das ist meiner Meinung nach ein großer Nachteil des digitalen Zeitalters und mit diesem ein Nachteil für die schnelle Gesellschaft, in der wir leben. Man muss lernen, sich die nötigen Kompetenzen anzueignen.

Hat Wissen noch dieselbe Halbwertszeit wie früher?

Das beantworte ich mit einem „Jein“. Klar, die Wissenschaft und die Praxis arbeiten fleißig und entwickeln sich ständig weiter. Dennoch glaube ich, dass es sehr viel Wissen gibt, welches immer noch sehr wichtig ist für eine kritische Reflexion und auch, um sich über grundsätzliche Dinge unterhalten zu können. Unsere Gesellschaft ist viel pluraler als wir manchmal denken. Wissen, was früher entwickelt wurde, ist auch heute noch gültig oder kann heute noch extrem wertvoll sein, um Dinge zu erklären. Dazu zählt beispielsweise das Spannungsfeld zwischen sozialen und ökonomischen Sachverhalten, etwa in Entwicklungsorganisationen.

Ich denke, wenn man eben dieses Wissen nicht nutzt und nicht mehr nachschaut, wo etwas steht, dann verpasst man einen wichtigen Teil. Um das neue Wissen in einen Kontext zu setzen, braucht man das alte Wissen. Ist es extrem neu oder nur ein wenig neu, habe ich es eventuell schon einmal in einem anderen Kontext genutzt? Wie ist es entstanden? Wir brauchen also diesen Grundstock an altem Wissen, um neues Wissen zu verstehen und vielleicht auch, um zu bewerten, was gut ist oder was man kritisch sehen kann.

Wissenserwerb 2.0: Informationen filtern

Verschiedene Zeitungen

Die Komplexität zu beherrschen in dieser Vielfalt von Medien ist enorm wichtig. Man muss kritisch mit den Inhalten umgehen, die man liest. Informationen sind einfach überall und jeder hat etwas zu sagen. Auf der anderen Seite würde ich nicht sagen, wir bekommen alles auf dem Silbertablett serviert. Viel mehr müssen wir uns bewusst machen, was auf dem Silbertablett tatsächlich liegt und was der Inhalt dahinter ist. Und deshalb bin ich der Meinung, dass Wissenserwerb nicht nur beinhaltet, dass ich die Komplexität beherrsche und weiß, wo ich Informationen finden kann. Ich bin auch kein Fan vom Auswendiglernen, gerade an Universitäten. Viel mehr sollte man auch weiterhin einen gewissen Grundstock an Wissen erwerben und sich nicht immer auf sein Smartphone verlassen. Wir müssen einfach wieder mehr die Kompetenz fördern, Dinge kritisch zu bewerten.

Wenn ich von etwas Ahnung habe und ich lese eine Schlagzeile, dann habe ich bestenfalls schon Wissen in meinem Portfolio, an welches ich dann andocken kann. Und dann kann ich Themen viel schneller bewerten. Deshalb bin ich auch nicht unkritisch gegenüber der Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft digitale Medien genutzt werden. Die Möglichkeiten, im Internet immer alles nachschauen zu können, haben nämlich auch soziale Auswirkungen. Wie oft diskutiert man in der Freizeit über Dinge und zieht schnell sein Handy zu Rate, um dann nachzuschauen, was stimmt und was nicht. Wenn man dann etwas googelt und sieht, 5% sind meiner Meinung, dann sagt man doch automatisch: „Ich habe Recht“.  Aber das ist ja nicht die einzige Meinung, die in diesem Kontext zählt. Ich denke also, neben der Komplexität, wie man sich Wissen am besten aneignet, braucht es zunächst einmal einen bestimmten Grundstock an Wissen, damit man diese Komplexität wiederum überhaupt beherrschen kann.

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